Narkose: Der Kampf gegen die Schmerzen

Narkose: Der Kampf gegen die Schmerzen
Narkose: Der Kampf gegen die Schmerzen
 
Schon immer haben Menschen versucht, Schmerzen mit Medikamenten zu lindern. Opiumhaltige Extrakte aus dem Mohn, Auszüge aus Bilsenkraut und der Alraune werden seit dem Altertum als Schmerzmittel verwendet. Das Mittelalter kannte Schlafschwämme, die mit einer opiumhaltigen Mischung getränkt waren und vor einer Operation eingesetzt wurden. Im Laufe der Jahrhunderte gerieten sie allerdings außer Gebrauch, und ab dem 16. Jahrhundert wurden chirurgische Eingriffe wie die Amputation von Gliedmaßen ohne jede Narkose durchgeführt. 1839 befand ein französischer Chirurg: »Schmerz bei Operationen vermeiden zu wollen, ist ein utopischer Traum, den wir heute nicht mehr hegen dürfen.« Er irrte sich - nur sieben Jahre später fand die erste öffentliche Operation unter Narkose statt.
 
 Der Bostoner Narkosetag
 
Am Freitag, den 16. Oktober 1846, warteten der Chirurg John C. Warren, sein Patient und ein großes Publikum in Boston auf den Zahnarzt William Thomas Green Morton. Morton wollte an diesem Tag eine Technik öffentlich demonstrieren, die er bis dahin nur in seiner Praxis erprobt hatte, nämlich die Narkotisierung eines Patienten durch Äther. Die schmerzstillende Wirkung von Äther und auch von Lachgas war zwar schon verschiedentlich bemerkt worden, aber bis in die 40er-Jahre des 19. Jahrhunderts zog man daraus keine Konsequenzen für die Medizin. Vor Morton hatte bereits ein anderer Zahnarzt, Horace Wells, unter Lachgasnarkose Zähne gezogen. Sein Versuch, die neue Technik Anfang 1845 öffentlich zu machen, brachte ihm jedoch nur Spott ein, er hatte wahrscheinlich das Gas zu gering dosiert, und der Patient schrie vor Schmerz. Einer der Zuschauer dieser missglückten Demonstration war Morton.
 
Er stellte nun seine eigenen Experimente an und wagte sich im Oktober 1846 an die Öffentlichkeit. Sein Versuch gelang, Morton narkotisierte den Patienten, und der Chirurg Warren entfernte einen Tumor am Hals, ohne dass der Patient die geringste Äußerung des Schmerzes von sich gab. Die Anwesenden erkannten die revolutionäre Bedeutung des Geschehens: Operationen verloren für die Patienten nun viel von ihrem Schrecken. Chirurgen gewannen durch die Narkose neue Handlungsfreiheit; während es bisher vor allem darauf ankam, so schnell wie möglich zu operieren, konnten sie nun am bewusstlosen Patienten langsamer und sorgfältiger arbeiten. Operationen im Brust- und Bauchbereich wurden durch die Narkose überhaupt erst möglich gemacht. Innerhalb kürzester Zeit verbreitete sich die Äthernarkose in weiten Teilen der Welt. Schon bald wurden auch andere Substanzen auf ihre Brauchbarkeit als Narkotika getestet, und 1847 wurden die ersten Operationen mit Chloroform durchgeführt. Chloroform wurde schnell populär, da es einen angenehmeren Geruch als Äther hat und keinen Hustenreiz auslöst. Bekannt wurde es vor allen Dingen durch den Umstand, dass die britische Königin Viktoria sich bei zwei Geburten Chloroform geben ließ. Allerdings traten bei Chloroformnarkosen auch vermehrt Todesfälle auf. Lachgasnarkosen wurden erst verbreitet eingesetzt, als die Narkoseapparate verbessert wurden und eine Mischnarkose mit Lachgas, Sauerstoff und Äther möglich wurde.
 
 Kokain, Morphin und Aspirin
 
Die Risiken einer Vollnarkose waren im 19. Jahrhundert nicht unbeträchtlich, da der damalige Stand der Technik eine genaue Dosierung der Gase nicht erlaubte. Daher suchten verschiedene Forscher nach eine Substanz, die eine lokale Betäubung ermöglichte. Kokain, ein Extrakt aus den Blättern des Kokastrauchs, war schon lange bekannt. Verschiedene Forscher hatten auch schon festgestellt, dass Kokain örtliche Gefühllosigkeit hervorruft, aber erst 1884 wurde es als lokales Betäubungsmittel bei einer Augenoperation eingesetzt: Der Wiener Augenarzt Karl Koller operierte einen grauen Star unter Kokainbetäubung. Die Lokalanästhesie durch Kokain erregte großes Aufsehen und wurde innerhalb kurzer Zeit in anderen Ländern übernommen. Sehr bald versuchte man auch, Operationen an anderen Körperteilen mithilfe örtlicher Betäubung durchzuführen, so verwendeten Ärzte im Hals-Nasen-Ohren-Bereich, in der Zahnheilkunde, der Urologie und der Gynäkologie die neue Technik. Der New Yorker Chirurg William Stewart Halsted kam auf die Idee, einzelne Nerven zu blockieren, indem er das Betäubungsmittel in die Nähe des Nervs spritzte. Diese Leitungsanästhesie unterbrach die Nervenleitung zwischen dem Körperteil, der operiert wurde, und dem Gehirn. Carl Ludwig Schleich führte die Infiltrationsanästhesie ein, bei der das Betäubungsmittel in tiefere Gewebsschichten injiziert wird. August Bier führte die erste Spinalanästhesie durch; er injizierte die Kokainlösung in den Rückenmarkskanal und erreichte so eine völlige Betäubung der unteren Gliedmaßen. Kokain war zwar ein wirksames Schmerzmittel, aber es hatte gefährliche Nebenwirkungen. Vor allem machte es süchtig. Man versuchte daher, Ersatzstoffe für Kokain zu finden, und das 1905 erstmals hergestellte Novocain verdrängte Kokain bald völlig.
 
Schmerzen sind jedoch nicht nur ein Problem bei Operationen, sie sind Begleiterscheinung vieler Krankheiten und können, wenn sie chronisch werden, selbst eine Krankheit sein. Opium ist eines der ältesten Mittel zur Schmerzbekämpfung. Der im Opium wirksame Stoff, das Morphin, wurde 1804 von dem Apothekergehilfen Friedrich Wilhelm Adam Sertürner entdeckt. In Deutschland wurde Morphin allerdings erst im 2. Drittel des 19. Jahrhunderts zunehmend als Schmerzmittel verordnet, dabei spielte nicht zuletzt sein hoher Preis eine Rolle. Mit der Einführung der Injektionsspritze durch Charles Gabriel Pravaz 1853 beschleunigte sich seine Verbreitung, denn nun konnte es in geringerer Dosierung verabreicht werden und wirkte zudem schneller. Wie bei Kokain besteht auch bei Morphin das Problem der Suchtgefahr. Heute weiß man allerdings, dass bei richtigem therapeutischen Einsatz keine Abhängigkeit eintritt, und Morphin gehört weiterhin zu den wichtigsten Mitteln zur Bekämpfung sehr starker Schmerzen.
 
Ein anderer Meilenstein in der Geschichte der medikamentösen Schmerzbekämpfung ist die Entwicklung des Aspirins. Der Grundstoff für Aspirin ist Salizin, eine Substanz, die in Weidenrinde vorkommt, und in der Tat wurde Weidenrinde schon im Altertum gegen Schmerzen und Fieber verwendet. Aus Salizin gewann man zunächst Salicylsäure, die schmerzlindernd, fiebersenkend und antirheumatisch wirkt, aber erhebliche Nebenwirkungen aufweist. Die Suche nach einem verwandten Stoff mit geringeren Nebenwirkungen ging daher weiter. Acetylsalicylsäure war schon 1853 vom Chemiker Charles Gerhard hergestellt worden, ihr therapeutischer Nutzen aber wurde erst gegen Ende des Jahrhunderts durch die Untersuchungen verschiedener chemischer Fabriken erkannt. Bei Bayer war es der Chemiker Felix Hoffmann, der 1897 Acetylsalicylsäure herstellte. Zwei Jahre später brachte Bayer sie mit großem Erfolg als Aspirin auf den Markt, und noch heute ist Aspirin eines der beliebtesten Schmerzmittel.
 
 Schmerz als Krankheit
 
Akute Schmerzen können mit den Medikamenten, die heute zur Verfügung stehen, meistens gut behandelt werden. Ein bleibendes Problem sind hingegen chronische Schmerzen. Bei einer chronischen Erkrankung ist der Schmerz häufig belastender als die Krankheit selbst. Schmerz kann sich auch verselbstständigen und fortbestehen, wenn die ursprüngliche Erkrankung oder Verletzung schon längst ausgeheilt ist. In diesen Fällen hat der Schmerz seine Warn- und Schutzfunktion verloren, er wird zu einer eigenständigen Krankheit. Die heutige Schmerzforschung richtet ihr Augenmerk vor allem auf die Frage, wie chronischer Schmerz entsteht und wie man ihn therapieren kann. Dabei wird untersucht, ob Schmerz womöglich erlernt wird: Möglicherweise können sich Nervenzellen während eines akuten Schmerzerlebnisses so verändern, dass sie auch dann noch Schmerz signalisieren, wenn der ursprüngliche schmerzauslösende Reiz nicht mehr vorhanden ist. Der Kampf gegen die Schmerzen geht also auch heute noch weiter.
 
Katharina Ernst

Universal-Lexikon. 2012.

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